Am Ende der vorherigen Folge verstieg sich der zonebattler in Schwurbeleien bezüglich der von ihm postulierten, toskanischen Anmutung der zentralrumänisch-siebenbürgischen Landschaft. Nun mag da jede(r) eigene Assoziationen haben und diesen Vergleich mehr oder weniger weit hergeholt finden, allein des Berichterstatters Gemüt sah sich tatsächlich von italienischer Leichtigkeit erfüllt, als er auf dem rumpelnden Bretterwagen wieder zurück in Richtung Richiș (Reichesdorf) kutschiert wurde:
Vielleicht war es auch nur ein allgemeines (Hoch-)Gefühl von Freiheit und Abenteuer, begünstigt durch das temporäre Ausklinken aus allen daheim zurückgelassenen Verantwortlichkeiten sowie dem unverstellten Blick in die Natur und die Weite des Horizonts, eine Elementarerfahrung, die einem als Stadtbewohner im normalen Alltag gemeinhin nicht so oft vergönnt ist.
Aber wenn man schon mal Schönes um sich hat und auch entsprechend Zeit, es zu genießen, dann soll man die Gelegenheit beim Schopfe packen. So dachte sich der Chronist, als er sich anderntags schon gegen Mittag wieder in die Horizontale begab und im ehemaligen Pfarrgarten von Reichesdorf alle Viere behaglich von sich streckte:
Ja, so kann man es aushalten, obwohl unter dem üppig tragenden Apfelbaum ein realistisches Risiko bestand, unverhofft gewaltig einen auf die Birne zu kriegen. Links und rechts von mir und um mich herum waren jedenfalls im Minutentakt Einschläge von frischem Fallobst zu hören. Vermutlich hat aber eine höhere Macht ihre schützende Hand über mich gehalten, ich wurde jedenfalls im Schatten des einstigen Pfarrhauses nicht von ausgeklinkten Äpfeln attackiert...
Unser Urlaub neigte sich nun langsam seinem Ende entgegen. Wie so oft bei intensiven Erfahrungen jenseits der gewohnten Umgebung und abseits der alltäglichen Rituale war unser Zeitempfinden gründlich dejustiert worden und die Sommerfrische kam uns deutlich länger vor, als sie mit noch nicht einmal zwei Wochen tatsächlich war. Noch einmal spazierten wir abends von unserer im ehemaligen Pfarrhaus logierenden Nachbarsfamilie zu unserer eigenen Ferienwohnung die Hauptstraße von Richiș hinunter:
Tags darauf machten sich die anderen Fürther – von uns ordnungsgemäß verabschiedet – auf den langen Heimweg von Rumänien nach Deutschland, quer durch Ungarn und Österreich. Da sie ja mit dem Familienmobil auf dem Landwege reisten und schon der Kinder und des Hundes wegen noch eine Übernachtung unterwegs eingeplant hatten, fanden sich der zonebattler und seine bessere Hälfte in der Situation wieder, einerseits noch einen ganzen Tag länger bleiben zu können, andererseits dank stählerner Flügel später sogar als erste wieder daheim in Franken anzukommen. [1]
Indes bedeutete das auch, ohne die stets situationsklärende, kommunikative Hilfe unserer Muttersprachlerin Almut auszukommen, was insofern zu leichter Unruhe Anlaß gab, als wir ja noch in Sachen Transfer zum Flughafen von Sibiu (Hermannstadt) auf einheimischer Leute Hilfe angewiesen waren. Aber nachdem uns unser leidlich englisch sprechender Ferienwohnungs-Vermieter versprochen hatte, uns mitsamt seinem Bruder höchstselbst in die gut 70 km entfernte Stadt zu kutschieren, konnten wir den letzten vollen Urlaubstag noch einmal vollends auskosten und eine große Wanderung in die Umgebung unternehmen...
Typisch rumänische Bauernhäuser wie das vorstehend gezeigte fallen ein, zwei Nummern kleiner aus als die einstigen Anwesen der Siebenbürger Sachsen, sind aber nicht minder liebenswürdig in ihrer bescheidenen, sich in die Landschaft einfügenden Art. Im Verein mit der unverstellten (und nicht eingezäunten) Umgebung erwecken sie in des mitteleuropäischen Städters naiver Fantasie den Eindruck von ländlicher Idylle und »heiler Welt«, einer fraglos bei näherer Betrachtung halt- und substanzlosen Illusion.
Vor lauter Staunen über die von den deutschstämmigen Siedlern errichteten Kirchenburgen kam die Volksfrömmigkeit der eingeborenen Rumänen hier bislang noch gar nicht recht zur Sprache. Auch die – verschieden ausgeprägte, aber letzlich gemeinsame – Religion vermochte die beiden großen Bevölkerungsgruppen auf Dauer nicht zu vereinen: Beide hatten bzw. haben ihre eigenen Kirchen und ihre eigenen Friedhöfe. Und auch ihre eigenen Kruzifixe, an denen freilich der gleiche (hölzerne) Heiland hängt. Es ist schon ein Kreuz...
Für uns Wandersleute haben derlei handgreifliche Manifestationen des ortsüblichen Glaubensbekenntnisses vor allem auch eine nostalgisch-pittoreske Seite, die perfekt zum Bild der hier noch überwiegend gering mechanisierten Landwirtschaft paßt. Pastorale Szenen wie diese wirken daher auf den mitteleuropäischen Metropolregionsbewohner wie aus der Zeit gefallen...
Nämliches galt für die Begegnung mit einer Ziegenherde, die wir nur wenige Kilometer weiter hatten: Vom wettergegerbten Schäfer bis zur malerischen Landschaft bot sich dem Blick das perfekte Arrangement einer bäuerlichen Genreszene nach Art der alten Meister. Einzig das wirklich furchteinflößende Gebell und Gehabe eines halben Dutzend zähnefletschender Hirtenhunde (aus mutmaßlich wenig liebevoller Haltung) injizierte einen Schuß Adrenalin in den ansonsten vorherrschenden Glückshormon-Cocktail...
Was macht man in solchen Fällen? Genau, den Weg unverzüglich frei, um den aggressiven Kläffern zu signalisieren, daß man ihre geifernd vorgetragenen Argumente durchaus verstanden hat und zu würdigen weiß. Es hier auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen, würde nominell intelligentere Zweibeiner letztlich doch sehr schnell als die Dümmeren dastehen (wenn nicht gar liegen) lassen.
Kaum also ward die Brücke freigegeben, da flutete auch schon die Herde heran und hinüber, begleitet vom fröhlichem Gemecker der Ziegen und dem nurmehr der Form genügenden Knurren ihrer Begleithunde. Nach einigen Minuten hatte der tausendfüßige Tross endlich die angepeilte Wiese erreicht und wir konnten die Brücke unbehelligt in Gegenrichtung passieren...
Auf einer asphaltierten Straße ging es dann zügig weiter bis nach Nemsa (Niemesch), einem letztlich so unbedeutenden Kaff, daß es zwar (Überraschung!) über eine kleine Kirchenburg verfügt, gleichwohl aber über keinen eigenen Wikipedia-Eintrag, auf den ich hier verlinken könnte. Mir selbst ist ein rührend zu nennender, winzig kleiner Dorfladen in Erinnerung geblieben, in dem es immerhin ein erfrischendes Eis am Stiel zu kaufen gab.
Ansonsten bot sich dem Besucher dort das gleiche Bild wie in den anderen sächsischen Siedlungen auch: Die typische Aneinanderreihung von Haus und Hof mit allerlei die Schönheit verschandelnden Accessoires wie Satelliten-Schüsseln und Strommasten mit lustlos drangehängtem Strippensalat. Sehr vertraut war uns inzwischen zudem der Anblick von Pferdewagen samt sonnengebräunter, bäuerlicher Besatzung:
Raus aus dem Ort, rein in die Wiesen und Auen: Über allerlei Feld- und Wirtschaftswege wanderten wir weiter durch die Natur, in der wir dann langsam aufgrund zahlreicher Wegeswindungen und mangels auffälliger Landmarken die Orientierung verloren. Dank Sonnenstand und Smartphone mit GPS-Ortung konnten wir aber unsere generelle Marschrichtung beibehalten, bis wir auf breitere Wege und bekannte Straßen kamen...
Die wir dann aber doch bald wieder verließen, um abseits der nicht ganz ungefährlichen Auto-Pisten wieder zu unserem Ausgangspunkt zurückzumarschieren. Kurz vor Reichesdorf nahm ich dann nochmal einen ehemaligen Weinberg ins Visier, in dessen abendlicher Lieblichkeit der Wehmut mitschwingt über den einstigen Reichtum [2] des Landes:
Was nun noch folgte (Kofferpacken, letzte Nacht in fremden Betten, lange Fahrt zum Flughafen usw.) ist im Detail nicht berichtenswert. Interessanter ist die Frage nach der zukünftigen Entwicklung der Region: Die Siebenbürger Sachsen, die bis heute hier geblieben sind, werden in wenigen Jahren ausgestorben sein. Ihre Nachkommen, die jetzt in Deutschland, Österreich oder anderswo ansässig sind, werden nicht zurückkommen. Warum auch? Die einstigen »Nachbarschaften«, die wechselseitige Hilfestellung in allen Lebenslagen boten [3], gibt es nicht mehr, wer hier neu anfangen wollte, müßte das faktisch fast bei Null tun. In einem Land, das entwicklungsmäßig immer noch hier und da hinterherhinkt und in dem Recht haben und Recht kriegen vermutlich immer noch weiter auseinanderliegen als in den mitteleuropäischen Demokratien. So fokussiert sich die Hoffnung auf eine junge Generation ökologisch denkender Rumänen, die hoffentlich nicht alle ihr Heil und ihre Zukunft in den Städten (oder gar im Ausland) suchen, sondern die im eigenen Land Aufbauarbeit leisten und Siebenbürgen langfristig aufs Neue erblühen lassen.
Der Verfasser hofft, mit seinen Zeilen Interesse an einem Landstrich geweckt zu haben, den vermutlich viele (wie er selbst ja vorher auch) bislang gar nicht als mögliche Reise-Destination auf dem Schirm gehabt hatten. Wer sich indes für Geschichte erwärmen kann und ein Faible für Architektur hat, nehme sich die Liste von Orten in Siebenbürgen mit Kirchenburg oder Wehrkirche vor: Bis man die ca. 150 Orte angefahren oder angelaufen und besichtigt hat, wird man ein paar Urlaube brauchen!
[1] Der gestaffelte Aufbruch war in erster Linie dem Umstand geschuldet, daß die Relation Nürnberg – Sibiu und zurück nicht täglich beflogen wird. Aber auch sonst hätten wir den Weg zum Flughafen nicht gemeinsam mit unseren heimreisenden Nachbarn antreten können, weil ihr Wagen ja schon mit den eigenen Familienmitgliedern samt deren Gepäck und Proviant bis in die letzten Lücken ausgefüllt war.
[2] Siehe dazu den Wikipedia-Artikel »Weinbau in Rumänien«.
[3] Zum Preis von sozialer Kontrolle und geistiger Enge, wie zu vermuten steht. Das eine ist ja ohne das andere meist nicht zu haben...